Aus dem freien Westen ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen

21.07.2025

Vortrag eines DDR-Zeitzeugen am Luitpold-Gymnasium

16 Jahre jung war Thomas Raufeisen im Jahr 1979, als er von heute auf morgen seine Heimat Hannover, seine Freunde sowie sein Gymnasium im freien Westen Deutschlands verlassen musste und sich plötzlich unfreiwillig in der DDR wiederfand. Nun erzählte Raufeisen seine dramatische Lebensgeschichte vor ebenso jungen Schülern des Luitpold-Gymnasiums.

Die DDR kannte Raufeisen bis 1978 nur von sommerlichen Besuchen bei den Großeltern auf Usedom. Aber schon damals als Kind bekam er den unfreiheitlichen Charakter dieses Staates zu spüren, da bei der Einreise seine Micky-Mouse-Hefte als „kapitalistische Feindpropaganda“ konfisziert wurden.

Im Januar 1979 reisten Raufeisen, sein älterer Bruder Michael und seine Eltern von einem Tag auf den anderen unter einem Vorwand in die DDR, ohne wie sonst wochenlang auf ein Visum warten zu müssen. Erst dort offenbarte der Vater den verblüfften Kindern, dass er nicht nur als Ingenieur bei der Preussag gearbeitet hatte, sondern auch als Spion für die DDR, der nun in Gefahr geraten war, enttarnt zu werden. Bereits in den 1950er Jahren hatte die Stasi den überzeugten Sozialisten als sogenannten „Kundschafter des Friedens“ angeworben. Der volljährige Michael forderte seine sofortige Rückkehr in die Bundesrepublik. Die Stasi entgegnete ihm, er solle doch froh sein, den dortigen „Faschisten“ entronnen zu sein. Letztendlich ließen sie ihn aber nach einigen Monaten ausreisen.

Thomas hingegen kam in die 11. Klasse einer Erweiterten Oberschule in Ost-Berlin, die ihm als eine der modernsten angepriesen wurde. Nicht nur deren heruntergekommener Zustand schockierte ihn, sondern vor allem das Klima dort: Der Unterricht begann mit einem militärischen Melderitual, dann wurden Arbeiterkampflieder gesungen und im Chor sozialistische Grußformeln vorgetragen. Im Sportunterricht übte man unter anderem Handgranatenweitwurf. Am letzten Schultag erschienen alle uniformiert zum Fahnenappell. Im Unterricht gab es keine freien Diskussionen. Die Schüler äußerten sich mit „zwei Zungen“: vor den Lehrern systemkonform, außerhalb durchaus auch kritisch. Thomas, dem Sohn eines Stasi-Spions, misstrauten sie jedoch. Der als westdeutscher Gymnasiast geprägte Raufeisen hielt es an dieser Schule nur wenige Monate aus und begann eine Lehre als KFZ-Mechaniker.

Die Familie bezog eine Plattenbauwohnung in Berlin-Mitte, von deren Balkon man in den ersehnten Westen schauen konnte. Raufeisens Vater hatte binnen eines halben Jahres seinen Glauben an den Sozialismus verloren und stellte einen Ausreiseantrag, der abgelehnt wurde. Bei einer Reise nach Budapest suchte die Familie erfolglos Hilfe in der Botschaft der Bundesrepublik. Ein konspiratives Treffen mit CIA-Agenten zur Fluchthilfe scheiterte. 

1981 kam ihnen die Stasi auf die Spur. Alle drei wurden getrennt im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen inhaftiert. Völlig isoliert in einer Zelle mit Glasbausteinfenstern ohne Blick nach draußen und unter Todesangst verbrachte Raufeisen dort 14 Monate U-Haft und wurde immer wieder verhört. Dann verurteilte ihn ein Gericht wegen Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts und landesverräterischer Agententätigkeit zu drei Jahren Haft. Später konnte Raufeisen in seiner Stasi-Akte lesen, dass dieses Urteil bereits Wochen vor der Gerichtsverhandlung von der Stasi festgelegt und von Minister Mielke persönlich genehmigt worden war. In der DDR gab es keine unabhängige, sondern eine politisch gelenkte Justiz. Während seiner Haft in Bautzen hoffte Raufeisen vergeblich, die Bundesrepublik würde ihn wie andere politische Häftlinge freikaufen.

Nach seiner Haftentlassung 1984 und nach fünfeinhalb Jahren DDR-Horror konnte er endlich in die Heimat Hannover ausreisen, auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur machen, studieren und Vermessungsingenieur werden. Erst nach dem Ende der DDR gelang es ihm, sein Trauma aufzuarbeiten und seine Rehabilitierung zu erreichen. Seinen Vater sah er nie wieder, denn dieser war in der Haft unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen.

Heute hält Raufeisen Vorträge in Schulen und Führungen in Hohenschönhausen. Auf diesem Weg möchte er die Geschichte der DDR-Diktatur lebendig vermitteln und sich für die in letzter Zeit gefährdet erscheinende Demokratie einsetzen. Die Schülerinnen und Schüler des Luitpold-Gymnasiums verfolgten seinen Vortrag mit gebannter Aufmerksamkeit, stellten Fragen und bedankten sich mit kräftigem Applaus.

Gerhard Widmann